Geschwister ehrt man für gewöhnlich nicht. Man vergisst es im besten Fall. Meistens ist man damit beschäftigt, sich über sie zu ärgern, oder etwas zu fordern. Geld für das gemeinsame Weihnachtsgeschenk für Mama, ein offenes Ohr für Launen, die Freunden nicht zumutbar erscheinen, Unterstützung beim Umzug. Ihre hilfsbereite Verbundenheit scheint aus Selbstverständlichkeit zu rühren, weil Geschwister bleiben. Sie überdauern Freundschaften und Liebesbeziehungen, Entfernungen und kontaktlose Phasen, sogar den Tod der Eltern. Geschwisterschaft ist die längste Beziehung im Leben.
Mein Bruder wird heute 18 Jahre alt. Er wird für mich immer „der Kleine“ bleiben, obwohl er mittlerweile mindestens 20 Zentimeter größer ist, eigene Expertisen und Interessen entwickelt und mir in vielem überlegen ist. Unsere Beziehung ist die personifizierte ‚Hass-Liebe‘, ein idealtypisches Exempel von dem besonderen Bund der Geschwisterschaft. Ich glaube ich habe meinem Bruder viel zu selten gesagt, wie viel er mir bedeutet und dass ich nicht auf ihn herabschaue, als weise große Schwester, sondern ihn bewundernswert anblicke und weiß, dass ich noch sehr viel von ihm lernen kann. Dieser Text ist für dich, Matthias.

Warum ich lieber eine Schwester gehabt hätte 

Mein kindlicher Horizont hätte nicht gedacht, dass er noch ein Geschwisterkind bekommen würde. In meinem Kindergarten-Freundeskreis hatten alle schon Brüder und Schwester, oder sich damit abgefunden, für immer alleine zu bleiben. Als ich vier Jahre alt war haben mich meine Eltern gefragt, was ich von einem Baby in unserer Familie halten würde. Ich hätte damals lieber eine Puppe gehabt. Kindlicher Trotz und rivalitäre Eifersucht vertragen sich nicht gut. Mein Bruder wurde im Januar geboren, ich habe eine Babyborn bekommen und geweint, dass Matze keine Mathilda geworden ist.

An die ersten Jahre unserer geschwisterlichen Beziehung kann ich mich nicht gut erinnern. Wahrscheinlich, weil sie für mich so selbstverständlich wie anstrengend waren. Matze beanspruchte meine Freunde, weil er mitspielen wollte, ohne zu können. Dank Kindchenschma generierte er alle Aufmerksamkeit durch bloße Anwesenheit. Wäre ich als Kind selbstreflektiert gewesen, hätte ich das erste Mal bewusst Neid empfunden. An meinem siebten Geburtstag hat Matze mir auf den Kopf gebrochen, als ich ihn vor der Schule auf den Arm nehmen wollte. Ein paar Monate später, wuterfüllt, weil er nicht der ebenbürtige Spielpartner war, den ich mir so sehr wünschte, riss ich an seiner Krabbeldecke und er musste ins Krankenhaus. Das tiefe Loch in seinem Kinn und die schmerzdurchtränkten Schreie beim Nähen ließen mich erstmals die von Neid hervorgerufe Scham spüren. Ich habe unseren Eltern bis vor kurzem nicht erzählt, was an diesem Sonntagmorgen wirklich passiert ist. Matze und ich interessierten uns also weniger füreinander. Ab und zu ärgerte ich mich über ihn, weil er immer Nudeln mit Ketchup essen wollte und meine Liebe zu Kartoffeln nicht teilte. Als er mit vier eine Brille bekam, war ich wütend, weil ich auch so aussehen wollte wie Harry Potter. Nachts wünschte ich mir die Hornhautverkrümmung meines Bruders. Aus meiner kindlich-narzistischen Blase habe ich nie gesehen, wie anstrengend es sein muss, der jüngere Part zu sein. Ich wollte keine Rücksicht nehmen, weil ich nichts davon zu haben gedachte. Ich wusste nicht, dass Liebe nicht weniger wird, wenn man sie teilt. Ich konnte mit Matze all die Dinge nicht machen, dessen Attribute ich einer guten Geschwisterbeziehung zuschrieb: Klamotten teilen und über Jungs reden. Ich stellte mir vor Mary-Kate zu sein und suchte meine Ashley.

Warnende Beispiele und wertvolle Beschützer 

In Deutschland werden aktuell so viele Kinder geboren, wie das letzte Mal vor zwanzig Jahren. Die Geburtenrate hat 2018 den höchsten Wert seit 1973 erreicht. Im Durchschnitt bekommt eine Frau 1,6 Kinder und nur noch jedes fünfte Kind wächst ohne Geschwister auf (Statista, 2018). Es ist wahrscheinlich normal, dass Kinder diese determiniert fremdgesteuerte Verbundenheit als Fluch empfinden. Sich an neue Situationen anpassen und Bedürfnisse anderer aushalten ist anstrengend und bleibt Einzelkindern meistens erspart. Dabei kann man so viel von Geschwistern lernen: allein ihr Dasein, räumlich und emotional,  ist Grundlage von Persönlichkeitsentwicklung. Das Teilenmüssen lehrt teilen lernen, Rivalität aushalten lehrt ehrgeizige Wut dosieren, innerfamiliäre Konkurrenz lehrt Konflikte austragen, Streiten lehrt Kommunikation, Andersartigkeit lehrt Toleranz, Langsamkeit Geduld und Liebe zu teilen lehrt die liebende Unendlichkeit. Wenn Tucholsky sagt: „Indianer sind entweder auf dem Kriegspfad oder rauchen die Friedenspfeife. Geschwister können beides“, dann muss ich, in Erinnerungen schwelgend, lachen. Als Matze anfangen konnte sich gegen meine verzaubernd hinterhältig provozierende Art zu wehren, habe ich gelernt, meine rhetorische Überlegenheit auszunutzen. Retrospektiv sehe ich diese Art des Streitens als ein Austesten von Grenzen im sicheren Raum der bedingungslosen Liebe an. Wir haben uns mit Schulbüchern abgeworfen und angebissenen Äpfeln. Ich habe vor allem mit Worten geworfen, was wesentlich verletzender ist. Innerer Schmerz zeigt sich nicht in blauen Flecken. Pubertierende Mädchen können so böse sein.

Während ich das schreibe frage ich mich, wie mein Bruder all das wahrgenommen hat und ob der Text tatsächlich eine Hommage an ihn oder eine Art therapeutisches Verarbeitungsschreiben frühgeschwisterlichen Hasses darstellt. Es gibt noch tausende jener kleiner Episoden, die ich erwähnen könnte. Vielleicht schreibe ich irgendwann mal eine Sammlung. Lieber Matze, ich hoffe, dass du, genauso wie ich, glücklich belustigt auf unsere Vergangenheit schaust und Verständnis für mein kindliches Ich hast, dass, damals wie heute, extrem in alle Richtungen war. Mein Desinteresse dir gegenüber erscheint mir heute wie ein Schutz, meine provozierend arrogante Haltung wie eine künstliche Mauer, die bedingungslose Verbundenheit durch Biologie kategorisch abgelehnt hat. Vielleicht aus Angst. So furchtlos naiv, wie ich mich durch die Welt bewege, so viel Angst machen mir zwischenmenschliche Beziehungen. Aber das hast du bestimmt auch schon gemerkt.

Räumliche Distanz und emotionale Nähe 

Seit ich ausgezogen bin, kann man unsere Beziehung auch als solche beschreiben. Ich bin oft verwundert, wie weit dein Horizont ist und wie selbstreflektiert kritisch du Dingen gegenüberstehst. Du hast das gesunde Misstrauen gegenüber der Welt, was mir fehlt. Du bleibst in Situationen ruhig, während ich mit dem Ausbruch hysterischer Weinkrämpfe kämpfe. Deine Stresstoleranz ist so hoch, wie meine niedrig. Du denkst rational, aber sensibel genug, um reine Emotionalität zuzulassen. Dein Ehrgeiz und deine menschliche Stärke sind bewundernswert. Ich habe dich vor meinen Freundinnen vor kurzem als ‚treudoof‘ bezeichnet. Das war ein falscher Ausdruck, wahrscheinlich müsste ich neologisieren, weil mir kein Passender für deinen liebenden Charakter einfällt. Ich schätze deine verantwortungsbewusste Loyalität und deine unabdingliche Zuverlässigkeit. Du denkst outside the box und ich frage mich, wie man mit 18 so weit sein kann. Ich habe das Gefühl, dass du deine durchaus schwere Kindheit in Stärke verwandeln kannst und ich bin stolz, dass du deinen Weg gehst. Ich bin dankbar, dass du immer da bist, egal wo du bist oder wo ich bin und ich bin froh, familiäre Dinge nicht alleine bestreiten oder entscheiden zu müssen. Du bist ein wertvoller Beschützer, während ich dir meistens ein warnendes Beispiel war.

In unserer schnelllebigen Welt scheinen Konstanten in Monaten gemessen zu werden. Beziehungen enden, bevor sie begonnen haben, wir sind überall und nirgends, das Leben ist ein Strudel. Das ist okay und lebensphasenabhängig wahrscheinlich wichtig. Ich befinde mich in eben diesem Strudel und lerne langsam, darin zu schwimmen. Es fühlt sich wie surfen an, auf riesigen Wellen. Ich genieße es sehr zu wissen, dass du niemals eine dieser Wellen sein wirst, sondern immer am Strand auf mich wartest und aufpasst, dass ich nicht untergehe. Ich warte nicht mehr auf meinen Olsen-Twin, oder als Jimi-Blue auf Wilson. Mit dir fühle ich mich wie eine der Brontë Geschwister oder ein weiblicher Bruder Grimm. Unsere Konkurrenz hat sich verschoben, ich hoffe wir bleiben für immer so enge Freunde, wie wir es heute sind.

Obligatorische Geburtstagswünsche kommen per Post.

In Liebe und mit Liebe und durch Liebe. 

Foto: Unsplash

1 Comment

Linear

  • Heike M.  
    Welch eine entzückende, selbstreflektierte Anerkennung eines so liebenswerten wie wunderbaren jungen Kerls.

    Alles Gute zu Deinem Ehrentag lieber Matze.
    Danke liebe Chrissi!

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