Ein Beitrag von Paul Trosien
„Gas erst bei den Privaten abschalten, dann bei der Industrie!“. Mit dieser eingängigen Schlagzeile zitiert der Spiegel heute den Aufsichtsratschef von E.on und Lufthansa. Ein Blick in die Kommentarspalte unter dem Text gibt Einblicke ins Gedankenleben des gemeinen Spiegel Online Foristen. „Erst einmal von den Anderen fordern bevor man selbst einen Beitrag leistet. Aber sebs frieren wird der Herr ja nicht.“, schreibt zum Beispiel Nutzer XLCLWBT7D93X2Ek3ZUexcb. 170 Daumen nach oben. 32 Daumen nach unten. Andere Kommentatoren sinnieren darüber, den Vermietern der Republik in diesem Fall eins auszuwischen, indem am besten jeder Mieter eine hundertprozentige Mietminderung durchsetzt. Differenzierte Kommentare sind eher Mangelware.
Neid ist deutsches Kulturgut und der empörte Aufschrei, wenn ein anderer mehr Spielzeuge hat als man selbst, bei uns Reflex.
Ich sitze auf der Couch und werfe einen Blick auf den Heizkörper an der Wand, der kalt ist, seit Putin in die Ukraine einmarschiert ist. Es ist noch lange kein Sommer, geschweige denn richtig Frühling. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, in den letzten Monaten gefroren zu haben. Ich habe Angst vor der Ungewissheit. Angst vor einem dritten Weltkrieg. Mitgefühl mit den hungernden und frierenden Ukrainer:innen, die man jeden Abend in der Tagesschau in Bunkern ausharren sieht. Angst zu frieren habe ich in Anbetracht des vor der Tür stehenden Sommers auch nicht. Und sowieso: In Deutschland müsste niemand frieren, der ein Dach über dem Kopf hat. Die ganze Welt erstickt in einer Flut gebrauchter Klamotten, man müsste sie nur anziehen.
Und trotzdem würde der Deutsche Wutbürger lieber aus Prinzip im Frühling schon kurze Klamotten in der Wohnung anziehen, als auch nur eine Sekunde zu lang über die Tragweite seiner trotzigen Ignoranz nachzudenken. „Mimimi, die da oben, die Juristen, die Manager, die Ärzte und am schlimmsten: die Politiker!!“
In unserer Gesellschaft existiert ein ausgeprägter Sozialneid, der beim genaueren Hinsehen aber gar kein richtiges Ziel hat, nur Projektionsfläche ist, Zielscheibe für den eigenen Frust, die Unzufriedenheit zu kompensieren. Vergleicht man unseren Lebensstandard mit anderen Ländern, da muss man garnicht weit fahren, so erscheint dieses Phänomen schnell lächerlich. Bei den Wahlen in Frankreich hat ein politischer Newcomer für die Sozialisten knapp 20% der Stimmen im ersten Wahlgang erhalten.
Sozialisten. Dieses Wort hat in Deutschland seit Jahrzehnten niemand mehr in den Mund genommen. In unserem schönen Land ist das sozialste (zumindest im Namen), was noch im Bundestag vertreten ist, die SPD, eine Partei der Auto- und Öl-Lobbyisten. Dass junge Leute FDP wählen und die Linken unter die 5% Hürde gefallen sind spricht Bände. In meinem Heimatkaff, in einer der strukturell schwächeren Gegenden Deutschlands, fährt jeder 18 jährige Asi einen geleasten Neuwagen von Mercedes oder BMW. Im Supermarkt ist Fleisch und Wurst immer noch billiger als Gemüse und Obst. Seelenlose Mehrfamilien-Neubauten, in denen in Osteuropa die Oberschicht residiert, sind bei uns dem Pöbel vorbehalten. Jedem Menschen in Deutschland, der Willens ist, seinen Kopf, seine Hände, oder sogar beides zu benutzen, blüht nicht gerade das schlechteste Leben.
Rebell sein, bedeutet hierzulande mittlerweile 5 Jahre auf Vati's Nacken oder mit Bafög Höchstsatz studieren und dabei Party machend das System zu bekämpfen das den Spaß finanziert. Wir leben in einem Land in dem ein Handwerker mit Hauptschulabschluss mehr verdient als ein Arzt in Tschechien. In dem jeder hobbyarbeitslose die Courage besitzt im Krankenhaus nach dem Oberarzt zu verlangen wenn der junge Assistenzarzt ihm nicht reicht.
Vielleicht ist es an der Zeit, den Blick über unsere Grenzen hinaus schweifen zu lassen. Unsere Privilegien zu sehen und anzuerkennen.
Und vielleicht - verdammte Scheiße nochmal - einen Pulli anzuziehen, wenn es dabei hilft, Putin zu schwächen oder unseren Wohlstand in Form unserer Wirtschaft zu erhalten.
Amen
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