Meine beste Freundin hat mir zu Weihnachten Michelle Obamas Autobiografie geschenkt. „Das Buch von einer unglaublich starken Frau“, stand in ihrer Weihnachtskarte. Das Buch hat 426 Seiten. Auf meinem Schreibtisch liegen noch mehr als ein Dutzend Bücher, die für meine Bachelorarbeit gelesen werden wollen – bestenfalls bis gestern. Ich fange Bücher an, mindestens fünf gleichzeitig, ich bin gelangweilt, fange zwei neue an, lege sieben beiseite. Michelle und ich haben, meiner Erkältung sei Dank, die letzten Tage zusammen verbracht. Ich bin beeindruckt, inspiriert, nachdenklich und vor allem auf sämtlichen Ebenen ermutigt. Das wird keine Buchrezension wie ich sie in der Schule zu Schreiben gelernt habe. Ich will das Buch weder widergeben, noch sprachlich untersuchen oder krampfhaft Kritik üben. Ich möchte, von meinem persönlichen Blickwinkel aufzeigen, warum es sich lohnt (nicht nur für Frauen), die Autobiografie Michelle Obamas zu lesen – und was ich daraus mitgenommen habe. Lesen stärkt die Seele, sagte Voltaire. Man könnte denken, er habe dies nach der Rezeption von „Becoming“ in die Welt getragen.
Michelle Obama ist wohl jedem ein Begriff. Michelle Obama ist die Frau Barack Obamas, dem 44. Präsident der Vereinigten Staaten. In Beziehungen im Allgemeinen, in prominenten Beziehungen im Speziellen werden Partner*innen häufig und oftmals unbewusst objektiviert und, durch Identifikation mit dem bekannteren Teil der Beziehung, identitätslos gemacht. Reduziert man Michelle Obama auf ihren Status als die Frau eines US-amerikanischen Präsidenten, impliziert man eine Unsichtbarkeit ohne die Stellung ihres Mannes. Eine First Lady kann es ohne einen Präsidenten nicht geben. Winken und Lächeln. Michelle Obama ist so viel mehr als das. In „Becomig“ schreibt sie auf eine ehrlich-reflektierte Art über das Aufwachsen als schwarze Frau in einem weißen, männlich dominierten Land. Über stereotypisierten Rassismus und patriarchalen Sexismus. Über ein Elternhaus, das sich nicht aus Geld und Materialismus, sondern aus Zeit und bedingungsloser Liebe gespeist hat. Dass sozioökonomische Privilegien mit ehrgeizigem Fleiß und neugierigem Mut überwunden werden können und wie schwierig es ist, Perfektionismus auszuhalten und Determinismus zu trotzen. Dass Glück nicht auf einem vorgefertigtem Weg gefunden werden kann, sondern sich aus einer Mischung von eigener Intuition, dem Wahrnehmen persönlicher Bedürfnisse und dem Folgen dieser speist. Sie schreibt über das Vereinbaren von Mutterschaft und Karriere, von Partnerschaft und Politik, von der Kindeserziehung als öffentliche Person. Über den Wert und die Last des Frauseins und dem Glück von Freundschaft und Ehe.
American Dream, eine Erfindung Hollywoods?
„Becoming“ liest sich zu Beginn wie die authentisch gelebte Geschichte des American Dream. Vom Tellerwäscher zum Millionär, von einem farbigen Arbeiterkind zu einer erfolgreichen Anwältin. Es ist spannend und mitreißend zu erfahren, wie sich Michelle Obama als Mitte 20jährige von dieser idealen Vorstellung emanzipiert, weil sie spürt, dass ihr Weg ein Anderer ist. „There are simply other ways of being“ (p. 81), schreibt sie. „I figured I’d work myself toward some version of feeling whole“ (p. 136). Den Prozess, den sie so anschaulich und klar beschreibt, das Gefühl fehlender Selbstverwirklichung und verzweifelter Identitätssuche kenne ich als Teil einer orientierungslosen Generation sehr gut. Ich bin sicherlich nicht die Einzige, die ihre Aufgabe im Leben noch sucht. Michelle Obama ist den unsicheren Weg gegangen, war neugierig und mutig, ihrer Intention und dem Gefühl, dass sie zu etwas Größerem bestimmt ist, folgend. Orientierungslosigkeit ist sie mit Optimismus begegnet, Perfektionismuszwängen mit Authentizität. Sie schreibt von Ohnmachtsgefühlen, die ausgehalten werden müssen, um Veränderungsreichtum neu spüren zu können.
Vielleicht gibt es sie doch, die wahre Liebe
Währenddessen beschreibt sie das Kennenlernen mit Barack, einem „mix-of-everything-man“ (p.106), bodenständig und prinzipientreu, sehr clever und etwas seltsam. Die partnerschaftlichen Einblicke lesen sich auf eine liebevolle, teilweise absurd-komische und vor allem sehr menschliche Art. Baracks Persönlichkeit wird nicht über Adjektive beschrieben oder Leistungen, sondern über Lebensanekdoten. Ich musste grinsen, als Michelle von einem „honeymoon with himself“ (p.171) schreibt, eine Auszeit auf Bali, die Barack sich genommen hat, weil Michelle ihm den Raum geben konnte. Ihre Beziehung scheint niemals Lebensinhalt oder Identität geworden zu sein, ungesunde Abhängigkeit oder Zwang. Es ist schön zu lesen, wie viel Liebe und Bewunderung Barack für seine Frau empfindet, und umgekehrt: Wie unterstützend, respektvoll und wertschätzend die Beziehung zu sein scheint, ohne Hierarchie und Selbstaufgabe. Wie die Beiden aneinander und miteinander wachsen und als Team eigene Spieler bleiben, die auch gut alleine, aber immer besser gemeinsam funktionieren. „This was a golden time for us, for the balance of our marriage, him with his purpose and me with mine“ (p. 185). Ich weiß nicht, wie Beziehung funktioniert. Es gibt keine Anleitung dafür, oder ein Rezept. Die Beziehung, die Michelle Obama beschreibt deckt sich allerdings sehr mit den Idealen, die ich sehe; mit der Art Beziehung, die ich mir wünsche. Die sich wahrscheinlich jede*r wünscht.
In dem zweiten Teil des Buches schreibt Michelle Obama über die Zeit im weißen Haus. Ihre Erzählungen sind von einer Absurdität geprägt, scheint die familiäre Bodenständigkeit nicht mit 132 Zimmern und über 5000 Quadratmeter Wohnfläche korrelieren zu können. Der Einblick ist genauso echt wie erschreckend-amüsant. Als Bilderbuch-Familie kennt man die Obamas: Michelle und Barack, Malia und Sasha. Welche Last sowohl eine Kindheit, als auch eine Erziehung im ständigen Schutz des Secret Service, mit hunderten Hausangestellten und hinter verschlossenen Türen und Betreten-verboten-Balkonen mit sich bringt, wird meistens ausgeblendet. Michelle Obama beschreibt auf eine mütterlich-besorgte und reflektierte Weise, ihre Erziehung und wie sie versucht hat, Malia und Sasha eine möglichst normale Kindheit zu gewähren. Sie schreibt über die Arbeitskleidung von den Hausangestellten, die zu Freunden wurden, über Date-Nights mit Barack, die Straßensperrungen und wochenlange Vorbereitung in Anspruch nahmen, über Flip-Flops, über Elternsprechtage, über exotische Früchte und die Inneneinrichtung im Wohnzimmer. Wie die Festnahme Osama bin Ladens und das Planen von Kindergeburtstagsparties an einem Tisch Platz haben mussten und wie die Familie gemeinsam gelernt hat, die Last eines Kontinents auf ihren Schultern zu tragen, ohne daran zu zerbrechen. Michelle Obama macht deutlich, dass es keine Anleitung gibt, wie eine First Lady zu sein oder zu leben hat. Dass jede Lebenssituation eine neue Selbstdefinition braucht und eine aktive Entscheidung, wer man sein möchte. „If you don’t get out there and define yourself, you’ll be quickly and inaccurately defined by others“ (p. 285). Das gilt nicht nur für First Ladies.
Visionen
„Becoming“ macht Michelle Obama greifbar. Nicht nur als First Lady, sondern als Frau, Mutter, Freundin. Als Seelsorgerin, als Schöpferin und vor allem als Sprachrohr für alle, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht für sich selbst sprechen können. Über der detailreichen Nachzeichnung ihres Lebensweges schwebt ubiquitär der hohe Wert von Demokratie und Partizipation und dass jede Nation, jedes Staatsoberhaupt, jeder Mensch, diese zu schützen gewillt sein sollte. Michelle Obama scheint einen Teil der Begegnungen, die sie während den acht Jahren ihres First-Lady-Daseins gemacht hat, so verinnerlicht zu haben, dass sie einen Hauch davon nach außen trägt. Ihre Biografie liest sich an einigen Stellen wie jene Nelson Mandelas. Michelle Obama scheint eine Frau zu sein, die nach kontinuierlicher Inspiration und geistigem Input sucht – weil Entwicklung niemals endet und Fortschritt Zeit braucht. „I am still in progress and I hope that I always will be. (…) Becoming is never giving up on the idea that there’s more growing to be done (p. 419). Ihr First-Lady-Status wurde niemals zur Quelle ihrer Identifikation, zum Zweck ihres Daseins, sondern zum Mittel, eine Vision zu verbreiten, die größer ist, als eine Präsidentschaftsperiode oder eine Lebenszeit.
„Becoming‘ zeigt auf 426 Seiten, dass alle Menschen gleich sind, gleich behandelt werden müssen und die gleichen Chancen verdienen. Dass sich die Menschen, die eine Stimme haben, für andere einsetzen müssen, die nicht gehört werden. Dass es egal ist, wo man herkommt – und nur zählt, was man daraus macht. Dass man alles schaffen kann, wenn man seine eigene Wahrheit lebt, respektvoll, achtsam und wertschätzend und mit dem Anspruch, sich selbst zu genügen. Dass Veränderung möglich ist, dass man, wir, uns trauen müssen, groß zu denken und zu träumen. Und dass dann, und nur dann, die Welt zu einem friedlicheren und gerechteren Ort werden kann. „You may live in the world as it is, but you can still work to create the world as it should be“ (p. 395).
Ich weiß nicht, ob ich Michelle Obama mit dieser Rezension gerecht werden konnte. Es gibt noch so viel mehr zu sagen. „Becoming“ hat so viel Inhalt auf so vielen Ebenen, dass eine Rezension, aus einem Blickwinkel, nicht genügt, um ihr Werk vollkommen zu erfassen. Die Themen, die sie adressiert sind wichtig, werden es wahrscheinlich immer bleiben – für jede*n einzelne*n, für jede Gesellschaft und unsere Weltgemeinschaft als Ganze. Ich habe vor allem mitgenommen, mehr auf mich selbst zu vertrauen. Dass es nicht nur okay ist, sondern wichtig, eine Vision zu haben und dass eine Verwirklichung Zeit und Geduld braucht. Es ist wichtig, dass wir uns unserer Größe bewusst sind: unserer Vergänglichkeit in einem undurchdringbaren Universum, gleichzeitig unserer Einflussmöglichkeit in unserem Mikrokosmos. Dass weibliche Energie so kraftvoll wie unterstützenswert ist und dass Ehrlichkeit alle Fehler bereinigen kann. Dass wir uns trauen müssen, mutig zu sein und auszubrechen, wenn wir das möchten und bereit sind. Und dass Veränderung nur gemeinsam möglich ist. „For every door that’s been opened to me, I’ve tried to open my doors to others“ (p. 421). Danke Michelle, dass du mit diesem Buch allen Menschen, die zu lesen in der Lage sind, die Tür zu deinem Herz geöffnet hast. Ich habe sehr viel gelernt.
Tj
Kira